DDR-Serie: Als die Weichen für die Nachwendezeit gestellt werden

Bei internationalen Duellen Erfahrungen sammeln: Dietmar Kammer (links) und André Großer von Lok Berlin mussten bei ihren ersten Spielen gegen West-Teams Lehrgeld zahlen. (Foto: Archiv/Der Faustball)
Verfasst am 2. Juni 2020
Allgemein

Dresden/Berlin (DFBL/ssp). 30 Jahre ist es im Oktober 2020 her, dass die Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik den Vertrag zu einem vereinten Deutschland unterschrieben haben. Auch die Faustballer aus der ehemaligen DDR und BRD gehören damit seit drei Jahrzehnten wieder zusammen. In einer kleinen Zeitreise blickt die DFBL auf die Wendezeit, die Teilnahme der DDR-Nationalmannschaft an der Männer-WM 1990 sowie den Zusammenschluss der Faustballer aus BRD und DDR zurück. Heute: Teil 2.

Donnerstag, 9. November 1989: Kurz vor 19 Uhr stellt Günter Schabowski in einer Pressekonferenz die neue Reiseregel der DDR vor. Auf Nachfrage eines Journalisten, wann diese Regel denn in Kraft trete, antwortet er mit dem berühmten Satz: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“ Über Rundfunk und Fernsehsender wird dieser Satz in die Welt getragen. Bereits kurz darauf versammeln sich vor den Grenzen in Ost-Berlin große Menschenmengen – die wenige Zeit später nach West-Berlin durchgelassen werden: Die innerdeutsche Grenze gibt es nicht mehr!

Für die Faustballer der DDR eröffnen sich durch den Mauerfall neue Chancen und Perspektiven. Sportlicher Aufbruch und Vorfreude auf die Reisefreiheit, aber auch Ungewissheit über die eigene Zukunft abseits des Sportplatzes liegen in der Luft – auch bei Thomas Greßner, der bei „Lok Erich Steinfurth“ in Ost-Berlin Faustball spielt. „Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war ich bei der NVA und habe meinen Grundwehrdienst geleistet“, erinnert er sich. Mit Sonderrechten darf er sich damals– in einer am Standort angegliederten Sportgruppe – fit halten. „Nach der Wende sollte sich bei vielen die berufliche Zukunft ändern“, sagt er. Ähnlich sieht es zu dieser Zeit auch in Sachsen aus. „Keiner wusste was wird, jeder musste sich erst einmal um seinen Job kümmern“, erinnert sich Horst Tillner, der in Dresden als Geschäftsführer einen Verein mit 11.000 Mitgliedern abzuwickeln hat. „Keiner hatte einen Plan, keiner wusste so recht wie es weitergehen sollte.“ So auch bei Greßner: „Nach meinem Pflichtaufenthalt bei der NVA bin ich in das geplante Sportfernstudium, an der DHfK-Außenstelle Berlin, gestartet. Das bereits mit dem Wissen, dass der berufliche Weg beim DTSB-Bezirksvorstand Berlin-Marzahn bald enden würde.“

Viele Reisen in den Westen

Größer ist da schon die Vorfreude auf die vielen sportlichen Duelle, die nun möglich sind. Das Berliner Nachwuchstalent nutzt dabei die neue Reisefreiheit. „Vor allem sportlich hat sich für uns der Horizont nach dem Mauerfall bedeutend erweitert“, sagt er. Von der Armee wird Greßner extra für einen Berliner Vergleichskampf freigestellt, in dem es gegen den VfK Berlin geht. „Hier haben wir eine erste Orientierung über unseren Leistungsstand bekommen.“ Gegen die Mannschaft um Jochen Böttcher, heute noch mit dem VfK Deutscher Meister der Männer 35, gab es eine Niederlage. Damit nicht genug: Mit seiner Vereinsmannschaft reist er zu weiteren Turnieren in der BRD, nach Österreich und in die Schweiz. Dazu besucht der Berliner die Play-Off-Spiele um die Deutsche Meisterschaft in Hagen. „Die Betten in Hagen und Umgebung waren komplett ausgebucht. Aber durch die Hilfe der Familie Schachtsiek wurden mir privat zwei Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen“, knüpfte Greßner erste Kontakte zu den BRD-Faustballern. Zum Turnfest in Dortmund und Bochum, zu denen die DDR-Faustballer eingeladen sind, bekommt Greßner dann kein Team zusammen – und reist daher kurzerhand als Schiedsrichter an. „Das gegenseitige Kennenlernen war meistens wichtiger als der sportliche Erfolg“, sagt er.

Zur Person
Horst Tillner (*1950) stammt aus einer Faustballfamilie aus Dresden. Als Zehnjähriger begann er mit dem Faustball bei Rotation  Dresden Mitte. Als 17-Jähriger betreute er als Trainer seine erste Nachwuchsmannschaft und wurde 1972 Mitglied im Bezirksfachausschuss Dresden. Zwei Jahre später gehört er dann auch dem DFV-Präsidium an – zunächst als Beisitzer, dann als Vorsitzender der Kinder- und Jugendkommission und Vizepräsident.

Auf Verbandsebene werden indes die Weichen für die Jahre nach der friedlichen Revolution gestellt. „Es gab keine Nationalmannschaft und keine Idee wie es weitergehen sollte. Der November und Dezember waren luftleerer Raum“, erinnert sich Horst Tillner. Der heute 69-Jährige ist zu dieser Zeit seit zwölf Jahren Vizepräsident für den Nachwuchssport im Deutschen Faustball-Verband (DFV) der DDR. „In den ersten Wochen nach dem Mauerfall hat niemand gewusst ob die DDR weiterexistiert und wenn ja wie lange“, sagt er. Ende Januar gibt es eine Sitzung des Präsidentenbüros. „Dazu gehörten die beiden Vizepräsidenten, der Schatzmeister, Generalsekretär und Zeitungsredakteur Frank Stein. Wir haben alle 14 Tage in Berlin zusammengesessen“, erklärt Tillner. Präsident Prof. Dr. Heinz Frankiewicz hat zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem West-Berliner Joachim Günther, Vorsitzender des damaligen Technischen Komitees des internationalen Faustballverbandes, Vorgespräche geführt. In der Sitzung Ende Januar wird beschlossen: An den 1990 ausgeschriebenen internationalen Wettbewerben nimmt die DDR teil. „Wir wollten versuchen, den Sportlern in allen Altersklassen einen Leistungshöhepunkt zu bieten“, sagt Horst Tillner.

Beginn der DDR-Nationalmannschaften

Nur wenige Wochen später trifft sich das gesamte Präsidium während der DDR-U16-Meisterschaften in Dresden. Hier beruft es die Nationaltrainer, dazu werden die Kaderkreise in den verschiedenen Altersklassen zusammengestellt. „Es galt für alle, dass sie sich für die Lehrgangsmaßnahmen Urlaub nehmen mussten. Was uns für Geld zur Verfügung stand, wussten wir zunächst nicht. Wir wollten schauen, wie weit wir kommen“, erzählt Horst Tillner. Aus den Terminvorgaben des internationalen Verbandes, schmieden die Trainer ihre Pläne und loten aus, was es für Trainingsmöglichkeiten gibt – in Sportschulen der DDR, aber auch im Westen. „Daraus entstand dann für alle der Fahrplan.“

Regeln lernen für die internationalen Einsätze: Joachim Günther (4. von li.), Vorsitzender des IFV-TK bildete sieben DDR-Schiedsrichter als I-Referees aus (Foto: Archiv/Der Faustball)

Für die DDR-Faustballer gilt es vor allem, sich an den Faustball der West-Sportler zu gewöhnen. „Mit den Spielen im kleinen Grenzverkehr von Berlin oder auch bei unserem Neujahrsturnier in Dresden, als der Schwimmverein Hof zu Gast war, wurde relativ schnell klar, dass wir im Vergleich mit den West-Teams deutlich hinter dem Niveau in der Technik und der Kondition hinterherhingen“, sagt der damalige DFV-Vizepräsident. Dazu fehlt es an Bällen. Tillner: „Die Teams aus der BRD haben drei, vier Bälle zu den Spielen aufgelegt. Bei uns in der DDR besaß jede Mannschaft in der Regel nur einen Spielball.“ Jedes Jahr finden etwa 20 Drohn-Faustbälle aus dem Westen den Weg in die DDR, die von den Mannschaften an den Spieltagen genutzt wurden – mehr gibt es nicht. Und auch einige Regeln sind neu für die DDR-Faustballer. „In der BRD wurde schon auf Sätze, bei uns noch auf Zeit gespielt“, berichtet der Dresdener. Dazu spielen die Frauen auf einer Leinenhöhe von 1,90 Metern – in der BRD und den internationalen Wettbewerben dagegen auf zwei Metern. „Es gab für uns in den Jahren zuvor kaum eine Veranlassung, daran etwas zu ändern. So hatten wir kaum Chancen das zu üben.“

Lehrgänge vor internationalen Auftritten

Das internationale Parkett betreten sollen die neuen DDR-Faustballnationalmannschaften bei allen Wettbewerben: Das internationale Jugendlager, Freundschaftsspiele (Frauen und weibliche U18) und Nationen-Pokale (männliche U18 und U23-Junioren) stehen unter anderem auf dem Programm. Und dann wäre da noch der große Höhepunkt der Männer. Zum ersten Mal seit der Teilnahme 1968 soll die DDR im September in Österreich wieder bei einer Weltmeisterschaft antreten. Trainer der Nationalmannschaft wird Wolfgang Ehrlich (Chemie Zeitz) sein, der bei den Titelkämpfen 22 Jahre zuvor als Spieler die Bronzemedaille gewann und nun Vorsitzender der Trainerkommission im DFV ist. Anfang des Jahres werden 18 Spieler als Nationalmannschafts-Kandidaten berufen. „Wolfgang Ehrlich hatte sich auch in den Jahren vor dem Mauerfall immer wieder bemüht, Lehrgänge anzubieten. Das ist aber auch an der Bereitschaft der Spieler und dem Geld gescheitert“, berichtet Horst Tillner. „An eine Nationalmannschaft war bis November 1989 ohnehin nicht zu denken.“ Nun aber gibt es sie. Und die Männer bereiten sich auf den sportlichen Höhepunkt ihrer Karriere – die WM – vor. Zahlreiche Trainingseinheiten, unter anderem in West-Berlin, aber auch in Halberstadt, Brettorf oder Hof sind angesetzt. Für den potentiellen Auswahlkader wird zudem eine einheitliche Urlausperiode vom 23. Juli bis 17. August festgelegt, um die weiteren Wochenenden zur Vorbereitung zu nutzen. Denn: Viel Zeit bleibt nicht, um sich dem westliche Niveau anzupassen.

Erschwerend in der Vorbereitung kommt hinzu: Ab dem 1. Juli ist die Ost-Mark Geschichte. „Wir mussten alle unsere Nachwuchsmeisterschaften absagen, da wir nicht wussten ob es überhaupt noch Geld gibt und ob das mit dem Reisen geht“, sagt Horst Tillner, der sich noch gut an eine Reise am 30. Juni von einem Trainingslager an der Ostsee nach Berlin erinnert. „Alle Spieler wurden pünktlich in Rerik auf den Bahnhof geschickt, damit ich punktgenau meine Abrechnungen zum 30. Juni in den Briefkasten in Berlin stecken konnte“, sagt er. Immerhin hat die DDR-Regierung eingewilligt, das Fahrtgeld für alle Nationalmannschaften der DDR zu übernehmen. „Die Übernachtung und Verpflegung musste jeder selbst zahlen“, sagt Tillner, der auch noch ein weiteres Problem lösen muss. „In allen Sportarten sind die DDR-Bürger zu Wettkämpfen gefahren, die blauen Trainingsanzüge wurden so langsam knapp.“ 48 Anzüge bekommt er noch zusammen, so dass jede Spielerin und jeder Spieler in den achtköpfigen Teams ausgestattet werden kann.

Die Veranstaltungen rücken näher und die Vorfreude auf die ersten internationalen Erfahrungen wächst – egal ob bei den Männern, Frauen, der weiblichen und männlichen U18 oder den U23-Junioren. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß: Die U23 wird beim Nationenpokal Anfang September einen sensationellen Erfolg feiern – vielleicht der größte einer DDR-Nationalmannschaft nach der Grenzöffnung. Doch dazu mehr in Teil 3.

DDR-Serie auf faustball-liga.de: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung blick die Deutsche Faustball-Liga in einer Serie auf die Wendezeit zurück. Die einzelnen Folgen erscheinen in losen Abständen. In Teil 1 berichtet Dagmar Spille von einer Reise ins Ungewisse im Jahr 1988 nach Brettorf.

Text: Sönke Spille
Interviews mit: Horst Tillner & Thomas Greßner
Mit Material aus: „Der Faustball“, Faustball-Information, Festschrift 25 Jahre Sachsenfaustball, „Faustball Sport“

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