DDR-Serie: Als der Sport Grenzen überwindet

Große Kulisse: 1988 trafen die Mannschaften vom TV Brettorf und ESV Schwerin aufeinander.
Verfasst am 29. April 2020
Allgemein

Schwerin/Brettorf (DFBL/ssp). 30 Jahre ist es im Oktober 2020 her, dass die Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik den Vertrag zu einem vereinten Deutschland unterschrieben haben. Auch die Faustballer aus der ehemaligen DDR und BRD gehören damit seit drei Jahrzehnten wieder zusammen. In einer kleinen Zeitreise blickt die DFBL auf die Wendezeit, die Teilnahme der DDR-Nationalmannschaft an der Männer-WM 1990 sowie den Zusammenschluss der Faustballer aus BRD und DDR zurück. Heute: Teil 1.

Es ist 1988. 16 Jahre hat keine Mannschaft der DDR mehr an internationalen Titelkämpfen teilgenommen. Grund ist der „Olympia-Beschluss“ des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB). Das SED-Politbüro konzentriert sich in diesem ab 1971 auf ausgewählte olympische Sportarten. Disziplinen, die nicht mehr unterstützt werden, dürfen auch nicht mehr im Westen starten. Für die DDR-Faustballer kommt erschwerend hinzu, dass man das einzige sozialistische Land ist, in dem Faustball gespielt wird. Ansätze, Tschechien oder Polen für den Sport zu begeistern, scheitern früh. Der DDR-Faustball bleibt somit international weitgehend isoliert, letztlich werden auch die A-Kader aufgelöst.

Dabei war die DDR in ihren Anfängen so erfolgreich gewesen. Die Männer-Nationalmannschaften hatten bei den Europameisterschaften 1965 und 1970 die Bronze- und Silbermedaille geworden und bei der ersten WM in Linz (Österreich) den dritten Platz belegt. Die ISG Hirschfelde hatte dazu 1963 als erste Mannschaft überhaupt den Europacup gewonnen, die BSG Chemie Zeitz den Titel von 1966 bis 1969 sogar dreimal in Folge. Beim Heim-Europacup in Hirschfelde treten die DDR-Vereinsmannschaften zum letzten Mal international an, danach ist Schluss – für 16 Jahre.

Kampf ums sportliche Bestehen

Während Europa- und Weltmeisterschaften im Westen ins Land ziehen, kämpfen die DDR-Faustballer gegen die geförderten Sportarten ums Bestehen. Mit Erfolg: In den späten 1980-er Jahren sind circa 7.000 – und damit 60 Prozent der Mitglieder des Faustballverbandes – Kinder und Jugendliche. Offiziell kommuniziert werden darf diese Zahl gegenüber des DTSB nicht. Den Grund dafür macht deren Präsident erst 1987 offiziell. Der Faustball sorge dafür, dass den olympischen Sportarten Talente verloren gehen, hieß es. Dennoch gelingt es dem Präsidenten des DDR-Faustballverbandes, Prof. Dr. Heinz Frankiewicz (seit 1978 Nachfolger des ersten Präsidenten Edgar Wünsche), 1985 Faustball im Schulsport einzuführen.

Zur Person
Dagmar Spille (geb. Stammann) (*1964) stammt aus einer Faustballfamilie aus Schwerin. Mit sechs Jahren begann sie mit dem Faustballspielen bei der BSG Lokomotive Schwerin. Ihr Vater Horst war zu dieser Zeit Trainer in Schwerin, ihre Mutter Renate hat 1957 zwei Spiele für die DDR-Nationalmannschaft absolviert. Bis zur Wende gewann Dagmar Spille mit Schwerin drei DDR-Meisterschaften der Frauen.

Und dann ist da Ende der 1980-er Jahre noch der langersehnte erste internationale Vergleich, den eine DDR-Vereinsmannschaft gegen ein Team aus der BRD bestreiten darf. Die Betriebssportgemeinschaft Lokomotive Schwerin, amtierender Hallenmeister der Frauen, soll zu einem Vergleichsspiel in die Bundesrepublik Deutschland reisen. „Im Rahmen unserer Städtepartnerschaft mit Wuppertal sollten wir zu einem internationalen Vergleich im Westen starten“, erinnert sich Dagmar Spille. Die Zuspielerin der BSG ist damals 25 Jahre alt und trägt noch den Nachnamen Stammann, als ihre Mannschaft in den Internationalen Sportkalender der DDR für das Jahr 1988 aufgenommen wird. „Unsere Vorbereitungen liefen auf Hochtouren – intensives Training und einige Seminarstunden in Politik waren bereits absolviert – als aus Wuppertal eine Absage kam“, erinnert sie sich. Der erste internationale Auftritt eines Damenteams aus der DDR in der Bundesrepublik droht zu platzen und lässt enttäuschte Spielerinnen zurück. „Wir hatten uns damit abgefunden, nun doch nicht zu den wenigen Sportlern einer nichtolympischen Disziplin zu gehören, die ins westliche Ausland durften.“

Schweriner Faustballerinnen reisen nach Brettorf

Doch dann geht alles ganz schnell: Ende April werden innerhalb weniger Wochen die Planungen wieder aufgenommen. Das Ziel ist nun nicht Nordrhein-Westfalen sondern das niedersächsische Brettorf, von dem bis zu diesem Zeitpunkt keine der Spielerinnen jemals etwas gehört hatte. Dafür verantwortlich ist Heino Kreye. Dieser hatte den TV Brettorf bereits 1986 in den Internationalen Faustballkalender aufnehmen lassen. „An die Bewerbung hatte schon niemand mehr gedacht, als wir die offizielle Information erhalten haben, dass ein Vergleich mit einer Frauenmannschaft aus Schwerin möglich wäre“, erinnert sich Ralf Spille, der zu dieser Zeit 2. Vorsitzender im TVB ist.

Begrüßung: Die Faustballerinnen aus Brettorf und Schwerin sitzen gemeinsam im Brettorfer Vereinsheim.

Neun Schweriner Spielerinnen, ihr Trainer und weitere Delegationsmitglieder machen sich Pfingsten 1988 auf den Weg in das Dorf mit seinen 700 Einwohnern im Landkreis Oldenburg. „Keiner von uns wusste was ihn so genau erwartet – nur eines war klar: ein Sieg war Pflicht“, erzählt Dagmar Spille. Am Freitagnachmittag trifft der Bus aus der DDR in Brettorf ein. Nach einem Empfang absolvieren die Spielerinnen noch eine kurze Trainingseinheit – ehe einen Tag später, am 20. Mai 1988, die Spiele der ersten und zweiten Mannschaften beider Vereine auf dem Programm stehen. Das Spiel der „Zweiten“ gewinnt Brettorf – und sieht kurz darauf auch im Hauptspiel beim Stand von 2:0 wie der sichere Sieger aus. „Wir sind mit den druckvollen Angriffen und der Linksschlägerin aus Brettorf überhaupt nicht zurechtgekommen“, berichtet Dagmar Spille. Nach Wechseln auf beiden Seiten – bei Schwerin kommt die nach einer Meniskusverletzung gerade wiedergenesene BSG-Zuspielerin in die Partie – dreht das Team aus der DDR das Spiel aber noch in einen 3:2-Sieg. „Uns ist ein großer Stein vom Herzen gefallen“, sagt Spille, die besonders vom Brettorfer Publikum beeindruckt ist: „Die Begeisterung der Zuschauer für uns war einmalig. Wir konnten ihre Herzlichkeit spüren und man hatte sogar das Gefühl, dass man uns den Sieg in gewisser Weise gegönnt hat.“

Gegenbesuch ist bereits geplant

Neben den sportlichen Wettkämpfen stehen für die Gäste aus der DDR ein Besuch im nahen Bremen und ein offizieller Empfang der beiden Delegationen durch die Gemeinde Dötlingen an. Zum Ende des Besuches schwindet auch die anfängliche Zurückhaltung auf beiden Seiten. „Auf der Rückfahrt hatten wir eine Menge Eindrücke von drei erlebnisreichen, aufregenden Tagen und die Gewissheit, dass der Sport Grenzen überwinden hilft“, blickt Dagmar Spille zurück. Und: Ein Gegenbesuch ist bereits geplant. Der TV Brettorf wird für das Jahr 1990 wieder in den Sportkalender eingetragen, um zum Rückspiel in Schwerin anzutreten. Doch zum erneuten Vergleich zwischen den Vereinen aus BRD und DDR kommt es in der geplanten Form nicht mehr. Mit den Ereignissen des 9. Novembers 1989 gibt es keinen Sportkalender mehr. Einen Gegenbesuch gibt es dennoch. An Ostern 1990 sind 60 Brettorfer in Schwerin zu Gast und erleben eine Neuauflage des Duells von 1988.

Begrüßung: Gleich treffen die Teams aus Ost und West aufeinander.

Dieses einmalige Faustball-Duell zwischen Ost und West wird die Vereine aus Schwerin und Brettorf für immer verbinden, Spielerin Dagmar Spille sogar ganz besonders. Nach der Wende kommt sie in die Gemeinde Dötlingen zurück. Und sie bleibt. Das kleine Örtchen Brettorf, von dem sie bis ins Frühjahr 1988 noch nie etwas gehört hatte, wird ihr neues Zuhause.

Die DDR-Faustballer behalten die Gastfreundschaft der Brettorfer übrigens in guter Erinnerung und werden kurz nach der Wende in der Gemeinde Dötlingen zu Gast sein. Doch dazu mehr in Teil 2…


Text: Sönke Spille
Interview mit Dagmar Spille

Mit Material aus: Festschrift 25 Jahre Sachsenfaustball, Vereinschronik TV Brettorf, Faustball-Information & „Faustball Sport“

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